„Unsere Arbeit, unser Umfeld und die gesamte Gesellschaft haben sich seit dem 24. Februar 2022 verändert und ändern sich immer weiter“ – dies haben wir von allen Gesprächspartner*innen gehört, die wir vom 6. bis 9. April in Odesa getroffen haben. Wir wollten mit unserem Besuch unsere Verbundenheit und Unterstützung ausdrücken und uns ein Bild der Situation vor Ort machen, indem wir den Menschen zuhören.
Roman Schwarzman, Vorsitzender des ukrainischen Verbandes für jüdische KZ- und Ghetto-Überlebende, empfängt uns am vierten Tag des Pessach-Festes im jüdischen Kulturzentrum. Der Versammlungsraum wurde für ein Pessach-Mahl für Senior*innen eingedeckt, in der Turnhalle und den Fluren lagern unzählige Kartons mit Hilfslieferungen.
Viele Überlebende der NS-Verfolgung sind in der Ukraine geblieben, sie fühlen sich zu alt, um ihre Wohnungen zu verlassen und in einem neuen Land zurechtzukommen. Sie werden weiterhin vom Sozialzentrum versorgt und finden dort auch soziale Angebote.
Eine wichtige Aufgabe des Verbandes war bereits vor dem 24. Februar 2022, bisher unbekannte Orte der nationalsozialistischen Vernichtung aufzudecken. Schwarzman hält diese Forschungs- und Erinnerungsarbeit auch jetzt für dringend, da Überlebende nicht mehr lange Zeugnis ablegen können.
Im jüdischen Kulturzentrum befindet sich auch das Sozialzentrum Hessed, das von Anatoly Kesselman geleitet wird. Ein Sohn ist nach Israel ausgewandert, auch seine Frau war während des Krieges zeitweilig dort, ist nun aber zurück in Odesa. Das Zentrum hat im vergangenen Jahr eine Not-Bäckerei in seinen Räumen eingerichtet, um auf die Lebensmittelknappheit zu reagieren. Für die älteren Menschen der Gemeinde wurden vor allem Medikamente, Lebensmittel und Hygieneartikel benötigt. Das Zentrum ist am Tag unseres Besuches voller Menschen, es finden viele kulturelle und soziale Angebote statt, die sich vor allem an Senior*innen richten.
Die Stiftung winds of change organisiert Unterstützung für Rom*nja, benachteiligte Familien und Frauen mit Gewalterfahrungen. Die Leiterin, Natalia Vegrian, berichtet uns, dass viele Familien zunächst flüchteten, dann aber wieder nach Odesa zurückgekehrt sind. Die Rückkehrer*innen berichteten, dass sie von den bürokratischen Anforderungen in den Aufnahmeländern überfordert waren. Aus der besetzten Stadt Cherson kommen zudem Binnenflüchtlinge nach Odesa.
Die Mitarbeiter*innen der Stiftung stellen mit viel Kreativität und großem Engagement Angebote auf die Beine, die der Kriegssituation Rechnung tragen. Sie organisieren Schulungen, die Frauen Arbeit von zu Hause ermöglichen, betreuen Hotlines, organisieren benötigte technische Hilfsmittel, entsenden mobile Teams in die nähere Umgebung.
Viele Mitarbeiter*innen von winds of change sind Rom*nja, sie finden so guten Zugang zu den Angehörigen der Minderheit. Dies ist am Tag unseres Besuches besonders zu spüren: der 8.4. ist der Internationale Roma-Tag. Wir dürfen bei der Feier dabei sein und von der Torte kosten, deren Zuckerguss die Fahne der Roma darstellt. Die Menschen begegnen uns mit Interesse und Herzlichkeit. Sie erzählen uns von der Geschichte der Roma in der Ukraine, ihren Kämpfen für Partizipation und Gleichberechtigung und von den Entwicklungen seit dem 24. Februar. Rom*nja sind zum einen besonders von den ökonomischen Auswirkungen betroffen. Zum anderen vollzieht sich in der Gesellschaft ein Wandel, der mit einem stärkeren Zusammenhalt verbunden ist. Das spüren Angehörige der Minderheit.
Die Hilfslieferungen des Berlin-Odessa-Expresses, die von ASF unterstützt werden, kommen auch diesem Projekt zugute. Aus den Gesprächen können wir hören, wie wichtig die Lieferungen sind. Besonders berührt uns, dass die persönlichen Karten und Briefe, die die Lieferungen begleiteten, mit Dankbarkeit und Verbundenheit aufgenommen werden.
Das Projekt Doroga k Domu war bis 2022 Einsatzstelle unserer Freiwilligen. Es wurde ursprünglich für Straßenkinder errichtet, seit 2014 nimmt das Haus, das auch Übernachtungsplätze anbietet, vor allem Binnenflüchtlinge aus dem Osten der Ukraine auf, seit dem 24. Februar 2022 kommen auch in dieses Projekt Flüchtlinge aus dem gesamten Land.
Der Krieg hat massive ökonomische Auswirkungen. Der Hafen in Odesa wurde geschlossen, und die Tourismusbranche ist zum Erliegen gekommen, damit fallen viele Arbeitsplätze weg. Die meisten Schulen und Kitas dürfen ebenfalls nicht öffnen, da sie nicht über die vom Staat geforderten Schutzräume verfügen. Viele Väter sind als Soldaten eingesetzt, Mütter bekommen Kinderbetreuung und ihre Erwerbsarbeit schwer unter einen Hut, und es fehlt auch an der notwendigen technischen Ausstattung für den online-Unterricht.
Auch hier reagieren die Mitarbeiter*innen sehr flexibel mit ihren Angeboten. Anfangs versorgten sie Geflüchtete direkt am Bahnhof, verteilten notwendige Hilfen, brachten Menschen unter, boten Beratung an. Heute organisieren sie psychologische Beratungen für traumatisierte Menschen und koordinieren Rehabilitationsprogramme für Kinder und Jugendliche, die die Auswirkungen des Krieges besonders spüren.
Auch im Rehabilitationszentrum St. Paul waren bis Februar 2022 ASF-Freiwillige tätig. Das Projekt unterstützt Überlebende der NS-Verfolgung, vor allem ehemalige Zwangsarbeiter*innen, Menschen, die HIV-positiv sind sowie Menschen mit Behinderungen. Vitaliy Mykhaylyk, der Leiter des Projektes, berichtet, dass auch hier ein Schwerpunkt der Arbeit inzwischen auf der Unterstützung von Binnengeflüchteten liegt. Er hat seine schwangere Frau am 25.2.2022 an die polnische Grenze gebracht, sie ist nach Dresden geflohen und hat dort ihr Baby zur Welt gebracht. Inzwischen lebt die Familie in Ushgorod an der ukrainischen Grenze zur Slowakei, Mykhaylyk pendelt nach Odesa.
Wir erlebten voller Hochachtung die Solidarität, Kreativität und den Zusammenhalt bei unseren Gesprächspartner*innen und unserer Landesbeauftragten Anzhela Beljak– und spürten gleichzeitig ihre tiefe Verzweiflung. Die Menschen erleiden Raketenangriffe, sie sind in großer Sorge um ihre Angehörigen und haben einige bereits verloren. Viele mussten aus besetzten Gebieten fliehen und bangen um ihre Zukunft. Der vollumfängliche russische Angriffskrieg richtet sich gegen die Freiheit und Selbstbestimmung der Ukrainer*innen. ASF wird die Unterstützung der Menschen vor Ort fortsetzen. Bitte unterstützen Sie die Hilfslieferungen in die Ukraine, indem Sie mit dem Stichwort „Ukraine“ spenden. Ihre Spende kommt unseren Partner*innen in Odesa zugute. www.berlinodessaexpress.de
Jutta Weduwen (Geschäftsführerin), Jakob Stürmann (stellv. ASF-Vorsitzender) Gabriele Scherle (ASF-Vorstand) und Anzhela Beljak (ASF-Landesbeauftragte für die Ukraine) besuchten vom 6. bis 9.4. Odesa.
Hintergrund
ASF hat von 2003 bis 2022 Freiwillige in die Ukraine entsandt. Unsere Arbeit steht im Zeichen der Folgen des NS-Vernichtungskrieges. Die Freiwilligen unterstützten Überlebende der NS-Verfolgung, jüdische Gemeinden, Gedenkorte, Menschen mit Behinderungen sowie sozial benachteiligte Menschen. Freiwillige aus der Ukraine nehmen weiterhin an ASF-Sommerlagern und am ASF-Freiwilligenprogramm in Polen teil. Weitere Hintergründe im zeichen 2/2022: „Stimmen zum Krieg in der Ukraine“