ASF-Geschichte(n)

Lothar Kreyssig – ein visionärer Realist

Heute vor 125 Jahren wurde Lothar Kreyssig geboren. Aus dem zunächst überzeugen Nationalkonservativen entwickelte sich ein entschiedener NS-Gegner, Gerechter unter den Völkern und Mitbegründer von Aktion Sühnezeichen und weiterer Initiativen wie Brot für die Welt und MISEREOR. Für Joachim Garstecki ein „visionärer Realist“.

 

 

Lothar Kreyssig besucht ein Sommerlager 1962.

Eine Erinnerung anlässlich seines 125. Geburtstages am 30. Oktober 2023

Im Herbst 2023 erinnern Christinnen und Christen in Deutschland an den Juristen, streitbaren Kirchenmann und Ökumeniker Lothar Kreyssig, der vor 125 Jahren, am 30. Oktober 1898 im sächsischen Flöha geboren wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg wirkte er 18 Jahre lang in Magdeburg als Präsident des Konsistoriums und Synodenpräses der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen (KPS). Die Stationen seines bewegten Lebens waren geprägt durch seinen Einsatz für die Menschen in der Kriegs- und Nachkriegszeit, für Recht und Gerechtigkeit, für Versöhnung und Frieden. 1958 gründete er Aktion Sühnezeichen.

Deutschlandweit bekannt wurde Kreyssig 1958 als charismatischer Gründer der Aktion Sühnezeichen. Welche maßgeblichen Motive standen hinter den Aktivitäten von Lothar Kreyssig? Drei wiederkehrende Grundmuster sind zu erkennen:

Die Wirklichkeit beim Namen nennen: Sagen, was ist.

Der Jurist und bekennende Christ Lothar Kreyssig reagiert zeitlebens mit einer großen Hellhörigkeit auf die gesellschaftlichen und politischen Signale seiner Zeit. Er sagt, was Sache ist, nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um die Aufdeckung von Unrecht und Ungerechtigkeit geht. Ob als Vormundschafts-richter in Brandenburg im Widerstand gegen die Vernichtung sogenannten »lebensunwerten Lebens« durch den NS-Staat 1940; ob als Repräsentant der Evangelischen Kirche in Magdeburg und Landwirt ab 1950 gegen die Zwangs-kollektivierung der DDR-Landwirtschaft, oder als Anwalt für Versöhnung und Frieden bei der Gründung der Aktion Sühnezeichen 1958 ‒ stets will Kreyssig »Rechenschaft geben von der Hoffnung, die in euch ist« (1.Petr 3,15). Das Hören auf Gottes Wort führt ihn unmittelbar ins engagierte Handeln, in die Übernahme politischer Verantwortung, so auch bei der Rettung der Jüdin Gertrude Prochownik vor der Shoah, die er zu Hause bei sich versteckt.

Das wird sichtbar im Gründungsdokument der Aktion Sühnezeichen »Wir bitten um Frieden« vom April 1958. Mitten im Kalten Krieg formuliert Kreyssig hier die Grundlagen für den bis heute gültigen Umgang mit deutscher Schuld gegenüber den Nachbarvölkern und gegenüber den europäischen Jüdinnen und Juden. »Sagen, was ist« ‒ das ist in diesem hochsensiblen Themenfeld Ausgangspunkt für eine beispielhafte Erkenntnis: »Wir haben vornehmlich darum noch immer keinen Frieden, weil zu wenig Versöhnung geschieht […].« Damit setzt Kreyssig Maßstäbe für die deutsche Erinnerungskultur der Nachkriegszeit. Beglaubigt wird das durch das zeichenhafte Handeln von über7.500 jungen Freiwilligen die ab 1959 in Projekten von Aktion Sühnezeichen in 14 Ländern Europas Versöhnungsdienst geleistet haben und leisten. Wahrheit, Ehrlichkeit und Demut des Sprechens sind die einzige Währung, die zählt. Was im Sommer 2023 aus Bayern über den Umgang mit dem Fall Aiwanger zu hören war, stellt dagegen einen schamlosen Rückfall in die Unbußfertigkeit der Täter dar. Die halbherzige Distanzierung des vermuteten Urhebers von einem widerlichen antisemitischen Hetzblatt, über das die Süddeutsche Zeitung berichtet hatte, schrumpft zusammen auf eine abgenötigte Entschuldigung, »Gefühle verletzt« zu haben. Schlimmer kann ein deutscher Politiker die Opfer der Shoah und die Jüdinnen und Juden im heutigen Deutschland nicht desavouieren.

Den eigenen Visionen trauen

Von Helmut Schmidt ist der Satz überliefert, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Lothar Kreyssig hätte gegen diese Auffassung protestiert. Er war ein Mensch, für den eine Vision zu haben, der Ausgangspunkt, ja, die unerlässliche Bedingung für jegliche Veränderung war.

1954 reist Kreyssig als Delegierter zur Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen nach Evanston in den USA. Er will die Kirchen für seine Vision einer ökumenischen Mobilmachung gegen den Hunger in der Welt und gegen die ungerechte Verteilung der wirtschaftlichen Ressourcen gewinnen. Sogar den Vatikan hofft er mit ins Boot zu holen. Doch der visionäre Initiator scheitert auf der ganzen Linie. Dennoch gibt er nicht auf. »In getroster Verzweiflung«, sucht er sein Ziel in bescheidenerer Münze umzusetzen. 1957 ruft er in Berlin die Aktionsgemeinschaft für die Hungernden ins Leben, eine Initiative ökumenischer Solidarität zugunsten der Notleidenden dieser Welt. Entschlossen übersteigt er konfessionelle Grenzen, 1959 wird er Mitbegründer der Aktion Brot für die Welt und des Bischöflichen Hilfswerkes MISEREOR. Eine mit den Armen solidarische Kirche wird für ihn zu einer lebenslangen Herausforderung.

Lothar Kreyssig versteht Visionen als aktivierende Wirklichkeit in den Auseinan-dersetzungen der Zeit. Sie können gerade dann wirkmächtig sein, wenn sie sich nicht auf Anhieb bewahrheiten lassen. Er will Menschen für ihre Visionen begeistern und ihre Verwirklichung auch gegen Widerstände vorantreiben. Dass die biblische Vision »Schwerter zu Pflugscharen« (Mi 4,3) ab 1980/1981 zum mobilisierenden Symbol der christlichen Friedensbewegung in der DDR werden konnte und die Friedliche Revolution von 1989 maßgeblich inspirierte, bestätigt den Visionär Lothar Kreyssig auf eindrückliche Weise. Ist diese Vision heute etwa gescheitert, weil in Europa wieder ein blutiger Krieg geführt wird? Hat die Vision »Schwerter zu Pflugscharen« ihre Plausibilität, ja ihre Faszination verloren, weil Russland seit Februar 2022 einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, gegen den sich das Land zu Recht verteidigt? Bedeutet die Ausrufung einer „Zeitenwende“ durch den deutschen Bundeskanzler, dass Menschen ihre Überzeugung vom Vorrang gewaltfreier politischer Konfliktlösungen nun vergessen sollen, weil es jetzt nur noch auf militärische Mittel und Fähigkeiten ankommt, alimentiert mit 100 Milliarden Euro? Dann wäre die Vision „Schwerter zu Pflugscharen“ eine Illusion, ein schönes Traumbild, aber als “Zukunftsentwurf“ untauglich.

Nicht so Lothar Kreyssig. Er würde uns Beine machen und darauf bestehen, dass gerade in diesem Krieg die Vision “Schwerter zu Pflugscharen“ als Zukunfts- und Hoffnungs-Bild hochzuhalten ist. Gegen allen Anschein geht von ihr eine große Kraft aus. Sie kann unseren Kopf frei machen und helfen, Denken und Handeln für notwendige Spielräume des Friedens zu gewinnen. Zeigt nicht gerade dieser Krieg mit Tausenden von Toten und Millionen Flüchtlingen, wie dringend notwendig die Rückkehr zu einem gerechten Frieden ist? Wie finden die Akteure raus aus der herrschenden Kriegslogik, die immer selbstzerstörerischer wird, und zurück in eine politische Friedenslogik? Wie müsste die aussehen, damit sie etwas von der Vision »“Schwerter zu Pflugscharen“ erahnen lässt? Mit dieser Frage lässt uns Kreyssig allerdings allein.

Die befreiende Tat: » … aber man kann es einfach tun«

Kaum ein anderer Satz von Lothar Kreyssig wird so oft zitiert, wie die Begrün-dung seiner Entscheidung für die Gründung der Aktion Sühnezeichen: „Dass unbewältigte Gegenwart an unbewältigter Vergangenheit krankt, dass am Ende Frieden nicht ohne Versöhnung werden kann, das ist weder rechtlich noch programmatisch darzustellen, aber man kann es einfach tun.“ Kreyssig hat Versöhnung nicht proklamiert, sondern er wusste, dass Versöhnung geschehen muss, und dass sie nur durch aktives veränderndes Handeln geschieht. Deshalb mobilisierte er junge Menschen, durch ihre praktische körperliche Arbeit an Orten deutscher Kriegsverbrechen tätige Zeichen ihres Versöhnungswillens zu geben. Legendär geworden ist die Grund-Überzeugung, mit der er sein politisches und sozial-diakonisches Engagement auf den Punkt bringt:
„Das Gesetz, nach dem wir angetreten sind, ist der Primat der Tat.“

Der Primat der Tat scheint heute vielen gesellschaftlich und politisch Handelnden weitgehend abhandengekommen zu sein. Absichtserklärungen, Ankündigungen und Ausweichmanöver im Konjunktiv bestimmen ihre Rhetorik. Hinter einem Wust von Hindernissen, Zuständigkeiten, Komplexitäten und Ausreden kommt es oft überhaupt nicht mehr zum Wichtigsten – um mit Lothar Kreyssig zu sprechen: „… aber man kann es einfach tun.“ Eine nie erledigte Aufgabe.

Joachim Garstecki

 

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