Aus dem Freiwilligenalltag, Freiwilligendienst, Menschenrechte, USA

Die Wüste fühlte sich nie ganz friedlich an

Lilly Wehrmann half entlang der Fluchtrouten bei Tucson, Arizona. Über Militarisierung und Heiligkeit des Landes, Willkürjustiz und solidarische Gegeninitiativen

Gebüsch mit Wasserflaschen in der Wüste bei Tucson
Wasserdepot in der Wüste bei Tucson, Texas, USA, 2025. Bild: Privat

Die InterReligious Task Force on Central America (IRTF) ist eine langjährige ASF-Partnerorganisation, bei der sich zahlreiche Freiwillige schon für Menschenrechte und Friedensarbeit engagiert haben. Die in Cleveland, Ohio ansässige interreligiöse Gruppe unterstützt die Zivilgesellschaften in Mittelamerika und Kolumbien bei der Aufklärung und Prävention der gewaltvollen Konflikte, stärkt Betroffene in ihrer Interessenvertretung und setzt sich dafür ein, dass sich in den USA Regierung, Unternehmen und Konsument*innen kritisch mit ihrer Verantwortung für die Situation in der Region auseinandersetzen. Die NGO wurde 1980 gegründet, nach dem vier Kirchenfrauen in El Salvador von US-gestützten Paramilitärs umgebracht wurden.

Von den Vorgänger*innen meiner Freiwilligenstelle hatte ich gehört, dass sie während ihrer Zeit bei IRTF an Delegationsreisen nach Mittelamerika oder Kolumbien teilnehmen konnten – das wollte ich auch unbedingt machen, um mich den Themen, mit denen wir uns täglich am Schreibtisch beschäftigen, einmal vor Ort in der Region näher zu fühlen. Aber nach den ersten Wochen der zweiten Trump-Präsidentschaft war klar, dass ich die USA nicht verlassen konnte, da es zu ungewiss war, ob ich wieder einreisen dürfte. Stattdessen konnte ich mit IRTF an die Grenze zwischen den USA und Mexiko reisen.

An einem Maitag flog ich nach Süd-Arizona, wo ich für die nächsten zweieinhalb Wochen blieb. Schon am nächsten Tag nahm ich an einer Einführungsveranstaltung der Tucson Samaritans teil. Diese Menschenrechtsorganisation arbeitet ausschließlich mit Freiwilligen und organisiert vor allem „Water Trips“: Kleine Gruppen von zwei bis vier Helfer*innen fahren in die Sonora-Wüste rund um Tucson. Sie deponieren Wasser, Lebensmittel, Erste-Hilfe-Ausrüstung und andere lebenswichtige Güter für Menschen die probieren in die USA zu migrieren und hier versuchen weiterzukommen, nachdem sie die Grenze von Mexiko in die USA überwunden haben. Die Stellen liegen an bestimmten Punkten entlang typischer Routen der Migrant*innen. Ich habe mehrere Water Trips im Chimney Canyon südlich von Tucson mitgemacht. Wir wanderten zu den Stellen und verstauten die Hilfsgüter in Kisten oder Eimern.

In der zweiten Woche reiste ich für zwei Tage mit den Samaritans nach Ajo ins Reservat der Tohono O’Odham Nation, einige Stunden westlich von Tucson. Die dortige Wüstengegend gilt als besonders tödlich. Die Landschaft dort war anders, karger und weiter, und unsere Touren waren länger und anstrengender. Wir konnten Ewigkeiten mit dem Auto fahren und die Berge am Horizont schienen dort zu sein, wo sie vor zehn Minuten auch schon waren. Unvorstellbar das Menschen diese Strecken zu Fuß zurücklegen.

Wer hat diese Flasche in den Händen gehalten?

Auf unserem Weg fanden wir immer wieder schwarze Wasserflaschen, sie werden verwendet, weil sie für die Grenzpolizei im Dunkeln schwerer zu entdecken sind, sowie Kleidungsstücke wie Schuhe und Jacken. Diese zurückgelassenen Gegenstände waren das Einzige, was ich von den Menschen, die durch die Wüste migrieren, in der Wüste sah, mich ihnen näherbrachten. Eine schwarze Flasche in der Hand zu halten und darüber nachzudenken, welche Hände sie zuvor gehalten hatten, war für mich sehr bewegend.

Neben der Versorgung mit Hilfsgütern führen die Tucson Samaritans auch Such- und Rettungsmissionen durch und pflanzen Kreuze in die Wüste, für die Menschen, die auf der Flucht gestorben sind.

Ich hatte die Möglichkeit an einer „Kreuztour“ mit dem Künstler Alvaro Enciso teilzunehmen. Er stellt seit über zehn Jahren handgefertigte Kreuze in der Wüste auf. Oft nimmt er Interessierte mit.

Zusammen mit Alvaro, einer Schulklasse und zwei weiteren Samaritans fuhren wir in die Wüste, um ein neues Kreuz aufzustellen und nach zwei älteren Kreuzen zu sehen. Das neue Kreuz war für eine unidentifizierte Person, die nur zwei Minuten entfernt zu Fuß von der Straße, an der wir geparkt hatten, gestorben war. Eine Frau, die mit ihrem Hund spazieren ging, hatte den Leichnam und den Rucksack der Person unter einem Baum neben einem Weg gefunden.

Alvaro erklärte uns, dass die meisten Menschen, die hier sterben, niemals eine Beerdigung in ihrer Heimat haben werden. Ihre Familien wissen nicht, ob sie nur gerade kein Netz haben, von der Grenzpolizei festgenommen wurden oder sie gestorben sind. Deshalb ist es Alvaro wichtig, ihnen diese Zeremonie und Form der Erinnerung zu geben. Zugleich soll es ein visuelles Zeichen in der Landschaft sein, welches an die schreckliche Realität in der Wüste erinnert.

Aber die meisten Menschen, die in der Wüste sterben, werden niemals gefunden.

Ungerechtigkeit und Bereicherung am Fließband

Ich ging auch zu einem „Operation Streamline” Prozess, welcher vor dem Einwanderungsgericht in Tucson stattfand. Dort traf ich Katrina, die jeden Tag an diesen Anhörungen teilnimmt und sie dokumentiert.

Operation Streamline war ein Programm der US-Einwanderungsbehörde, bei dem die meisten „undokumentierten Grenzgänger” in Massenverfahren verurteilt wurden. An dem Programm gab es starke Kritik aufgrund von fehlender Rechtsstaatlichkeit und menschenrechtswidrigen Haftbedingungen. Obwohl das Programm offiziell beendet wurde, werden ähnliche Praktiken weiterhin angewendet. Diese Art der Massenprozesse ist nur möglich, weil sich die Menschen erzwungenermaßen für schuldig bekennen, da sie sonst mit wesentlich höheren Haftstrafen rechnen müssten.

42 Personen saßen auf Holzbänken im Gerichtssaal. Männer in orangefarbenen Overalls, drei Frauen in roten Overalls. Sie waren mit Handschellen gefesselt, und ihre Hände waren an einer Kette um ihre Taille gekettet; ihre Beine waren ebenfalls gefesselt, sodass sie nur kleine Schritte machen konnten. Wenn eine Gruppe nach vorne ging, war das Klirren der Ketten zu hören. Sie konnten die Dolmetschgeräte nicht selbst in ihre Ohren ein- und ausstecken; ein Gerichtsangestellter musste dies für sie tun. Es war erniedrigend, entmenschlichend.

Die Angeklagten wurden zu neunt oder zehnt vor die Richterin aufgerufen. Sie stellte jedem von ihnen dieselben neun Fragen, die sie alle gleich beantworteten: „Sí“ oder „No“ und „Culpable“ (schuldig) auf die letzte Frage. Und dann fing alles wieder von vorne an. Die Worte der Richterin, die Antworten – alles wiederholte sich 42 Mal. Man hätte die Richterin leicht durch einen Roboter ersetzen können. Es war wie ein Fließband.

Der Mensch, der von einem besseren Leben träumt, wird zur Ware für die Bereicherung der Reichen: Nach dem Gerichtstermin erklärte mir Katharina, dass die Menschen früher direkt aus der Wüste zu ihrem Gerichtstermin gebracht wurden oder nur eine Nacht in Haft verbrachten. Jetzt sind es zehn Tage oder mehr, was zum Teil daran liegt, dass die Gerichte nicht hinterherkommen, aber auch daran, dass die privaten Gefängnisbetreiber von längeren Haftzeiten profitieren. Sie rechnete mir die Kosten vor: 42 Personen, 10 Tage, 150 Dollar pro Tag – 63.000 Dollar, die die Regierung an die Betreiber der Gefängnisse zahlt. Und das noch bevor die sechsmonatigen Haftstrafen beginnen.

Was ich in diesem Gerichtssaal sah, war schrecklich.

Zwischen Militarisierung und traditioneller Heiligkeit

Die extreme Militarisierung in der Region war ebenso erdrückend. Jedes Mal, wenn wir in die Wüste fuhren, passierten wir Checkpoints der Grenzpolizei. Sie ist allgegenwärtig – weiße Autos mit grünen Streifen, unmarkierte weiße Autos, die die Samaritans dennoch erkannten, Kameratürme, Drohnen, Bodensensoren, Hubschrauber. Und die Air Force absolviert regelmäßig über diesem Wüstengebiet Übungsflüge. Jedes Mal in der Wüste hörte ich die Kampfjets, oft sahen wir sie auch. Die Wüste fühlte sich nie ganz friedlich an; die militärische Präsenz war immer spürbar. Manchmal im Hinterkopf, unbewusst. Andere Male, wenn wir die lauten Hubschrauber hörten, das Einzige, woran ich denken konnte. Ich kann mir nicht vorstellen, wie Menschen sich fühlen, die die Wüste durchqueren, in ständiger Angst, von der Grenzpolizei entdeckt zu werden.

Meine Zeit in Arizona fiel auch mit der Ankunft des Militärs zusammen. An meinem zweiten Tag zeigte mir jemand ein Bild von einem Panzer, der gerade an der Grenzmauer gesichtet worden war. Später, als wir nach Ajo fuhren, sahen wir Panzer, die an der Grenzschutzstation auf der State Route 85 in Why geparkt waren. Auf meinem letzten Water Trip im Chimney Canyon begegneten wir vier Soldaten in der Wüste. Als einer der Samaritans fragte, ob sie zum Militär oder zur Nationalgarde gehörten, lachten sie. Einer sagte: „Ich weiß nicht.“ Alle, die dabei waren, waren sich sicher, dass sie zum Militär gehörten. Am selben Tag sahen wir einen Militärhubschrauber. Für diesen Einsatz der Streitkräfte im Innern gibt es keine verfassungsrechtliche Grundlage. Diese militärische Präsenz im Inland ist für die USA in der jüngeren Zeit beispiellos.

Um ein tieferes Verständnis für die Sichtweise der indigenen Bewohner*innen zu bekommen, besuchte ich den Saguaro-Nationalpark. Hier lernte ich mehr über die Heiligkeit des Landes für die Gemeinschaften. Ich hörte ein Gespräch mit einem Mann der Tohono O’Odham an. Er sprach über seine Kultur und darüber, wie sich das Grenzregime auf seine Gemeinschaft auswirkt. Ein Teil der Gemeinschaft lebt in Mexiko, ein Teil in den USA, und wie die physische Grenze die tradierten Verbindungen zwischen ihnen störe. Für ihn fühlt sich die Mauer an, als würde jemand mit einem Messer in den Bauch seiner Mutter kratzen.

Ich nahm auch an einer Protestaktion zum Schutz von Oak Flat (Chí’chil Biłdagoteel) teil, einer heiligen Stätte des Apachenvolkes, die derzeit durch Bergbau bedroht ist. Die Initiative Apache Stronghold kämpft vor Gericht dagegen, dass das Land an ein Bergbauunternehmen übertragen wird. Als ich durch die Wüste fuhr, sah ich immer wieder Minen – unnatürliche, tiefe Einschnitte in der Landschaft, wo einst Berge voller Leben waren.

Doch es gab auch viel Schönes. Die Natur war atemberaubend – anders als alles, was ich je gesehen hatte. Ich habe so viele herzliche, engagierte Menschen getroffen. All die Menschen, die sich mit unterschiedlichen Initiativen organisieren und die Welt verändern, haben mir Hoffnung gegeben.

Die Reise zur Grenze war für mich sehr wichtig. Ich habe tiefe und persönliche Einblicke in die Situation gewonnen und ein tieferes Bewusstsein dafür, was Migration bedeutet, nicht nur an dieser Grenze, sondern an allen: die Weite der Wüste zu sehen, auf denselben Pfaden zu wandern wie Menschen, die probieren durch diese zu migrieren, aber immer zu wissen, dass ich heute Nacht in meinem Bett schlafen werde und sie in der Wüste. Neben der hassvollen Mauer zu stehen und überall Alvaros Kreuze zu sehen, war etwas anderes als einen Artikel zu lesen oder Bilder zu sehen.

Was ich erlebt habe, hat mich IRTF nähergebracht – unserer Arbeit und unserer Mission. Es ist so wichtig, dass wir uns selbst und andere darüber aufklären, warum Menschen eine so gefährliche Reise auf sich nehmen, ihre Heimat, Freund*innen und Familien zurücklassen. Und dass wir gemeinsam mit ihnen die Umstände ändern, die sie zu dieser Flucht zwingen.

Ich bin allen Menschen bei IRTF und den Organisationen vor Ort, die diese Reise möglich gemacht haben zutiefst dankbar.

Lilly Wehrmann hat 2024–2025 ihren ASF-Freiwilligendienst bei IRTF in Cleveland, Ohio in den USA geleistet, der im Rahmen des Internationalen Jugendfreiwilligendienstes (IJFD) stattfand.