Von Flucht und Migration: Keine Immunität für NS-Kriegsverbrechen

Zeitschrift: zeichen 3/2011

Flucht und Migration ist ein unerschöpfliches Thema der Menschheitsgeschichte, mit dem sich schon die Bibel müht. Die Flucht der Hebräer aus Ägypten ist die grundlegende Fluchterfahrung in der Bibel. Der Exodus liefert seit biblischen Zeiten das Bild von Befreiung aus einer Zwangsherrschaft auf dem Weg zu einer Gesellschaft mit menschenwürdigen Bedingungen für alle. Ein Weg, von dem die Menschheit seitdem in unterschiedlichen Varianten immer wieder abgekommen ist und manchmal – wie im Nationalsozialismus – die falsche Richtung einschlug bis hin zur Zwangsherrschaft und Gewalt.

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Die Erfahrung der Überlebenden der NS-Zeit verweist uns immer wieder auf die lebensprägenden Erfahrungen des Verfolgtwerdens. Der badische Jude Paul Niedermann kann die Dämonen der Erinnerung erst vertreiben, als er im BarbieProzess von seinen Erlebnissen spricht – und doch kommen sie manchmal wieder. Henriette Kretz weiß als polnische Jüdin, dass fehlende Hoffnung und Gewalt zur Flucht treibt. Sie wurde verlor ihre Eltern und wurde nach Belgien vertrieben. Sie weiß, dass es für alle Seiten eine Herausforderung ist, eine offene Gesellschaft zu sein. Weil von diesen Erfahrungen so viel für heute zu lernen ist, haben wir unsere Freiwilligen gebeten, sie zu dokumentieren. Von dieser Recherche, die zu einem Projekt wurde und bewegende Gespräche mit Nachkommen nach sich zog, erzählt Myriel Fußer. Unser Bemühen ist aber nicht, die heutige Flüchtlingspolitik mit der NS-Verfolgung gleichzusetzen, sondern anhand dieser Lebenswege von zur Flucht Getriebenen zu sensibilisieren für die heutige Situation. Der Zusammenhang von Gegenwart und Geschichte ist keine Gleichung, aber ein Lernfeld für Einfühlung und gesellschaftliche Verantwortung. Von Versuchen, Menschenwürde in der Abschiebehaft zu geben, berichtet Kirsten Jöhlinger. Volker Maria Hügel gibt einen Überblick über europäische Flüchtlingspolitik, deren grausamste Ergebnisse wir als auf dem Mittelmeer gekenterte Flüchtlingsboote in den Nachrichten sehen. Das Gegenbild sollte wahr werden, der Überlebenskasten, wie die Arche Noah in der Andacht von Aline Seel und Rahel de Boor genannt wird.

Außerdem stellen wir Freiwillige der neuen und der alten Generation vor, die am 1. September ihren Dienst begonnen bzw. beendet haben. Unser Dank gilt beiden Gruppen, den einen für das schon Getane und den anderen für den Mut und die Neugier, zu ASF zu kommen. Im Sommerlagerbereich ist dieser fröhliche Wechsel von Beginn und Ende der Arbeit sehr viel schneller. Und doch verändert auch diese kurze Zeit der gemeinsamen Arbeit die Perspektive. Die Jubiläumsberichte von den erfüllenden Tagen in Paris, Coventry und London sind Langzeitperspektiven, aus denen spürbar wird, dass sich Verständigung praktisch leben lässt, vorankommt und doch eine zarte Pflanze bleibt.

Einer, der dies wusste und unermüdlich voranbrachte war Franz von Hammerstein, der am 15. August 2011, fünf Wochen nach seinem 90. Geburtstag in Frieden gestorben ist. Ein Vorreiter, ein Weggefährte, ein Begleiter für ASF und für so viele einzelne von uns, ist verloren und bleibt doch präsent. Dankbar für dieses Leben grüße ich Euch und Sie mit herzlichem Dank an alle Unterstützer_innen.

Ihr und Euer Christian Staffa