Aus dem Freiwilligenalltag, Polen
Vernarbte Erinnerungen: Über das Viertel, das es nicht mehr geben sollte
Von der Straße, in der ich wohne, sind es ein paar Hundert Meter. Plattenbauten, Vögel singen in den Bäumen, vor den Fenstern wehen polnische Flaggen leise im sommerlichen Wind. Dann stehe ich an der Ulica Górczewska, sechsspurig, die Rush Hour dröhnt, gegenüber dicht gedrängt: Rossmann, täglich frische polnische Schweinekottelets, ein älterer Herr verkauft auf einem Plastiktisch Kirschen und Himbeeren, neben ihm ein fettwabernder Kentucky Fried Chicken. Am Horizont, im Osten, die Skyline Warschaus voller Wolkenkratzer, in meinem Rücken die westliche Vorstadt mit dem Stadtteil Wola. Es war hier, 1939, dass sich die deutschen Truppen ihren Weg in die Stadt bahnten, „ein endloser Strom aus Soldaten, glattrasiert und arrogant, die auf militärischem Gerät oder gut genährten Pferden saßen und militärisches Gerät hinter sich herzogen“, so beschrieb es Józef Małgorzewski, ein polnischer Radiomoderator später. Es war hier und in der parallel verlaufenden Wolska-Straße, dass deutsche Soldaten vom 5. bis 8. August 1944 beim „Massaker von Wola“ um die 50.000 polnische Zivilist*innen ermordeten. Hier vor 80 Jahren.
Am 28.September 1939 endet mit der Übergabe Warschaus der Überfall auf Polen. Warschau ist zuvor von den polnischen Truppen in zähen Kämpfen fast drei Wochen lang verteidigt worden. Es beginnt eine fünfjährige Besatzung. Die Wehrmacht errichtet das Warschauer Ghetto, von dem aus über 300.000 Jüdinnen und Juden in die Vernichtungslager deportiert werden. Während die Besatzer von Warschau aus systematisch das Land ausplündern und seine Kultur unterdrücken, Polinnen*Polen, Jüdinnen*Juden, Sinti*zze und Rom*nja verfolgen und ermorden, bündeln sich in der Stadt die Hoffnungen auf ein freies Polen. Warschau ist Sitz des polnischen Untergrundstaats, der in Kontakt mit der polnischen Exilregierung in London steht. Der Widerstand ist breit gefächert, von geheimen Vorlesungen an Untergrunduniversitäten bis hin zur polnischen Heimatarmee, die in Guerilla-Manier Überfälle und Sabotageaktionen durchführt.
Der Ghetto-Aufstand zeigt: Widerstand ist möglich!
Im April 1943 bricht im Warschauer Ghetto ein Aufstand aus. Um sich der geplanten Liquidierung des Ghettos entgegenzusetzen, kämpfen die jüdischen Aufständischen schlecht ausgerüstet, doch mit voller Überzeugung vier Wochen lang, bevor der Aufstand am 16. Mai brutal niedergeschlagen wird. Sie hatten im Bewusstsein der militärisch unabwendbaren Erfolglosigkeit gekämpft, doch ihr Kampf ist tatsächlich ein enormer symbolischer Erfolg: Eine Auflehnung gegen die deutsche Besatzung ist möglich. Das ist auch für den Untergrundstaat von großer Bedeutung. Am 1. August 1944, im Wissen der alliierten Landung in der Normandie, der anrückenden Roten Armee und des gerade gescheiterten Hitler-Attentats startet die Heimatarmee, ebenfalls schlecht bewaffnet und in der Unterzahl, den Warschauer Aufstand. Es gelingt ihnen wichtige strategische Gebäude und Viertel unter ihre Kontrolle zu bringen. Heinrich Himmler befiehlt: Alle Polen in Warschau, ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht sind zu erschießen. „Warschau ist dem Erdboden gleichzumachen, um Europa zu zeigen, was es bedeutet, einen Aufstand gegen die Deutschen zu unternehmen.“
Heinz Reinefarth, Höherer SS- und Polizeiführer trifft mit seiner gleichnamigen Einsatzgruppe am 4. August in Warschau ein. Am nächsten Tag, dem Tag der später als „der schwarze Samstag“ bezeichnet werden wird, stoßen seine Truppen früh morgens von Westen in Richtung Zentrum vor, um die dort isoliert kämpfenden deutschen Truppen zu unterstützen. Direkt nachdem die Einsatzgruppe Reinefarth Wola unter seine Kontrolle gebracht hat, beginnen die Soldaten willkürlich Zivilist*innen aus ihren Häusern auf Straßen und Hinterhöfe zu schleifen, um sie dort zu erschießen und ihre Häuser in Brand zu setzen. Die Menschen müssen für ihre Exekution anstehen. Unter ihnen ist auch die im achten Monat schwangere Wanda Lurie mit ihren drei Kindern. Die SS erschießt sie vor ihren Augen. Sie selbst überlebt, schwer verletzt, nachdem sie zwei Tage unter einem Berg von Leichen gelegen hatte. In anderen Straßen kreisen die Deutschen Häuser ein und werfen Handgranaten durch die Fenster. Hunderte Zivilist*innen verbrennen bei lebendigem Leibe. Sie dringen in zwei Krankenhäuser ein, ermorden Kranke und Pflegepersonal. Reinefarth beschwert sich: „Was soll ich mit den Zivilisten machen? Ich habe weniger Munition als Gefangene“.
„Warschau ist dem Erdboden gleichzumachen“
In den folgenden Tagen, die meterhohen Leichenstapel beginnen die deutschen Truppen zu behindern, wird ein Verbrennungskommando aus Zwangsarbeiter*innen losgeschickt. Die Spuren des Massakers sollen vernichtet, die Ausbreitung von Seuchen verhindert werden. Die brennenden Leichenberge sind kilometerweit zu riechen. Die Zwangsarbeiter*innen und gefangen genommene Anwohner*innen dienen der SS als menschlicher Schutzschild vor Scharfschützenfeuer.
Am Abend des 6. August wird der Stopp der Erschießungen von Frauen und Kindern befohlen. Das Massentöten habe negative Auswirkungen auf die Truppenmoral, der erhoffte Effekt der Einschüchterung der Heimatarmee sei nicht eingetreten. Ab dem 12. August dürfen auch Männer nicht mehr sofort exekutiert werden. Zu diesem Zeitpunkt wurden in Wola zwischen 40.000 bis 60.000 unschuldige Menschen umgebracht. Das Massaker von Wola ist vorbei, aber der Warschauer Aufstand ist noch in vollem Gange.
Ein Spaziergang durch Wola. An der Ulica Górczewska vor einem Nissan-Autohaus steht ein Denkmal. Weiß-rote Geranien, ein verspiegeltes Kreuz, Jesu Umrisse rostig zu erkennen. Daneben, Namen auf Marmor, die Inschrift: „Hier wurden vom 5. bis zum 12. August 1944 12.000 Polen durch deutsche Soldaten erschossen.“ Ich laufe weiter die Straße runter, bis zur Płocka-Straße. An der Ecke, wo das Licht warm durch die Bäume schimmert, steht eine weiße Statue, eine stumme Person in einem weißen Gewand. Vor 80 Jahren stand hier ein Krankenhaus. Ich wechsle rüber auf die Wolska, gehe zurück Richtung Westen. Wieder der gelbliche Sandstein, das fünfeckige Wappen, von einem Kreuz umrahmt, die immer gleiche Schriftart: „Hier wurden am 7. Oktober 20 Polen von deutschen Soldaten erschossen. 100 Meter weiter, weiß-rote Geranien: „6. bis 8. August, 4.000 Polen“. Es ist ein lauer Sommertag, der Asphalt riecht leicht nach Regen: „2.500 Polen“. „Hier ermordeten die Nazis beim Massenmord an der polnischen Bevölkerung 4.000 Menschen in ihren Häusern.“ Es ist unerträglich. In einem Park, Kinder in Lewandowski-Trikots spielen Fußball: „Hier wurden 1.500 Polen erschossen und 6.000 verbrannt.“ Die Zahlen hören nicht auf, Gedenksteine sind überall, sobald man sie zu beachten beginnt.
Eines der größten Verbrechen an der Zivilbevölkerung – die Täter kamen davon
Das Massaker von Wola war eines der größten Verbrechen an der Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkrieges. Und dennoch, während der Terror jener Tage allen Menschen in Warschau und Polen im Gedächtnis geblieben ist, die Stadt für immer verändert und traumatisiert hat, blieben die verantwortlichen Männer ungestraft. Heinz Reinefarth zog nach dem Krieg nach Sylt, wurde später Bürgermeister von Westerland und saß im schleswig-holsteinischen Landtag. Eine Auslieferung nach Polen wurde abgelehnt, der Entnazifizierungsausschuss entlastete ihn ohne weiteres. Das Massaker von Wola ist in seiner Ungeheuerlichkeit heute, 80 Jahre später, den allermeisten Deutschen kein Begriff mehr.
Warschau ist ein Phoenix aus der Asche, eine Stadt, die auf Narben gewachsen ist. Das Narbengewebe ist tief und weit verzweigt, doch man kann es sehen, an vielen Orten der Stadt, wo es hervorragt oder in Museen, wo es ausgestellt wird. Und in einer dieser Verzweigungen, in einer vernarbten Furche in Wola, da lebe ich. Und wenn ich durch die Stadt gehe, achte ich auf die Narben und es ist immer dann, wenn ich sie sehe, dass ich an die denke, die vor mir hier gewohnt haben.
Jakob Schupp leistete bis September 2024 einen ASF-Freiwilligendienst im Deutsch-Polnischen Jugendwerk in Warschau. Eigentlich wollte er in Israel eine Stelle antreten, musste jedoch nach den Anschlägen vom 7. Oktober mit den anderen Freiwilligen das Land verlassen. Sein Freiwilligendienst fand im Rahmen des Internationalen Jugendfreiwilligendienstes (IJFD) statt und wurde von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ) gefördert.