Jahrestagung
Immer wieder?! Vielstimmige Debatten zu Krieg und seinen Folgen
Zum Auftakt lasen die niederländische Zeitzeugin Rozette Kats und der Zeithistoriker Lutz van Dijk aus dem Kinderbuch „Damals hieß ich Rita“. Mit diesem Namen wuchs Rozette Kats unter falscher Identität in einer Pflegefamilie auf. Erst mit der Einschulung erfuhr sie, dass sie eigentlich Rozette heißt und als jüdisches Kind versteckt wird. Ihre Eltern und die meisten Menschen ihrer großen Familie überlebten die Shoah nicht. Als Kind musste sie nicht nur unter der deutschen NS-Besatzung, sondern auch in den Aufbaujahren nach dem Krieg funktionieren, traut sich kaum zu fragen. Doch ihre unklare Vergangenheit verfolgte sie lange, bis sie sich ihre eigentliche Identität für sich erschloss und auch verstand, warum ihr Umfeld so lange die eigenen Wunden nur beschweigen wollte. Mit dem Kinderbuch wollen Kats und van Dijk nicht nur die lange nachwirkende Verfolgung auf diesem Lebensweg vermitteln, sondern allgemein Kindern einen Zugang ermöglichen, wie sie eigene und andere Gewalterfahrungen erfragen und erzählen können.
Am Samstag eröffneten Weggefährt*innen von ASF aus ihren unterschiedlichen biographische Prägungen heraus Perspektiven auf Krieg und Frieden, Erinnerung und Verdrängung, historische Verantwortung und Zivilcourage heute: von der beschönigten NS-Belastung einer westdeutschen Familie, in der die Kriegszeit nur vage und bruchstückhaft förmlich wegerinnert wurde, über das beengte Aufwachsen in der DDR zwischen instrumentalisierten Friedensparolen und Militarisierung, das mit der Wende in die Erfahrung internationaler Aufbrüche, aber auch rechtsextremer Gewalt und Nationalismus überging. Freiwillige und Mitarbeitende berichteten, wie sie über ASF Menschen kennen lernten, deren Familien und Orte wie etwa in Griechenland oder dem östlichen Europa bis heute unter deutschen Kriegsverbrechen leiden: So sagte ein griechischer Zeitzeuge, dass für ihn der Krieg bis heute nicht zu Ende sei, weil die Verbrechen von Deutschland immer noch nicht anerkannt und immer noch nicht entschädigt worden seien.
Auf dem anschließenden Podium berichteten Ofer Waldman und Daria Yemtsova ganz ähnlich von den Auswirkungen der Kriege in Israel und der Ukraine: „Für die Menschen in Israel ist der 7. Oktober noch immer nicht vorbei, ein 8. Oktober konnte für sie noch nicht folgen, weil die Schrecken der Terroranschläge noch gar nicht aufgehört haben“, so der israelische Autor. Und auch Daria Yemtsova stimmte zu, dass für die Menschen in der Ukraine die Zeit seit dem 24. Februar stehen geblieben zu sein scheint: „Für mich begann dieser Tag nach kurzem Schlaf mit dem checken der vielen Kriegsnachrichten und seitdem schlafe ich schlecht in der Erwartung schlechter Nachrichten, aus immer neuen Kriegsnächten“, so die ehemalige ASF-Freiwillige, die heute für die Stiftung EVZ arbeitet.
Für Menschen, die vor dieser Gewalt nach Deutschland geflohen sind, ist die Gegenwart und Wahrnehmung in Deutschland oft nur schwer zu ertragen. Scheinbar ist hier alles friedlich und soll es bleiben, während nur einige Reisestunden entfernt immer neue Opfer zu beklagen sind. Die anfängliche Aufmerksamkeit und Solidarität ist schnell neuen Schreckensnachrichten gewichen. Und im Wahlkampf versprechen Parolen Frieden – und lassen die Betroffenen mit der Frage zurück, ob das nur die Ruhe vor den Zumutungen dieser Welt und ihren Konflikten sein soll, während die Gewalt und Bedrohung in Charkiw oder dem Nahen Osten weiter währt? Der ukrainisch-deutsche Autor Dmitrij Kapitelman sieht hier mehrere Parteien, die putinistisches Vokabular einfach übernehmen und Stimmung gegen ukrainische Geflüchtete schüren. Daria Yemtsova betonte demgegenüber die Kraft von Demokratien: „Jeder gesunde Mensch will den Frieden, doch die Frage ist, was wir unter Frieden verstehen. Alle wollen den Frieden für sich, aber niemand möchte dafür zahlen. Den Preis zahlen aber die Menschen, die der Krieg trifft. Deswegen müssen wir als Demokrat*innen auch wehrhaft gegen solche Aggressionen sein.“
Auch der ehemalige Israel-Freiwillige Constantin Gans sah in der deutschen wie internationalen Öffentlichkeit eine völlig ungleich verteilte Aufmerksamkeit, etwa wenn ein kürzlicher Anschlagsversuch auf eine Synagoge nur noch eine Randnotiz ist. Diese unterkomplexen Wahrnehmungen sind anfällig für Desinformation und Projektionen – letztlich schaden damit den Betroffenen auf allen Seiten. Ofer Waldman betonte, wie wichtig es in dieser Situation bleibt, Empathie für beide Seiten aufzubringen, nur so gelinge ein Ausbruch aus Gewalt und Perspektivlosigkeit. Wenn ich als Israeli in Deutschland meine Regierung aufs Schärfste kritisiere, weil sie nicht im Interesse des Volkes handelt, muss ich immer auch die Situation der jüdischen Gemeinschaft hier im Land vor Augen haben, auf die ständig „Israelkritik“ projiziert wird. Als Deutsche und wir alle sollten uns fragen, was unsere Verantwortung ist. Wir müssen uns klar sein, was gerade die israelischen Geiseln und die Menschen in Gaza durchmachen.“
Im Anschluss diskutierten die rund 150 Teilnehmenden in verschiedenen Workshops zu Friedenstheologie, der extremen Rechten und Krieg, Völkerrecht, sexualisierter Gewalt in Konflikten oder Fake News und hybride Kriegsführung. Ein historischer Spaziergang entlang der Hardenbergstraße führte in die armenisch-türkisch-deutsche Beziehungsgeschichte. Gedichte über Flucht und Migration vom Poetry Project Berlin schlossen den Abend ab.
Am nächsten Tag fand dann die ASF-Mitgliederversammlung mit der Einbringung und Diskussion von Jahresbericht und Haushalt sowie den Wahlen zum Vorstand statt. Die bisherigen Vorstandsmitglieder wurden im Amt für weitere zwei Jahre bestätigt: Ilse Junkermann (Vorsitzende), Dr. Andreas Kroneder und Dr. Jakob Stürmann (stv. Vorsitzende), Dr. Marie Hecke, Gabriele Scherle, Dr. Gianna Magdalena Schlichte und Joachim Rasch (Beisitzende).