Über Flucht (Avan Kamal)

Im Seminar von ASF haben wir uns viel mit Krieg und den Folgen von Krieg beschäftigt. Ich habe sehr viele traurige Geschichten gehört. Besonders schockiert haben mich die Erzählungen von den Todesmärschen. Die Nazis haben die Menschen am Ende des Krieges gezwungen auf Todesmärsche zu gehen. Sie mussten weiterlaufen, bis sie gestorben sind. Sie hatten keinen Ausweg. Sie mussten gehen, bis sie sterben. Auch einer der Brüder von Otto Rosenberg ist auf einem solchen Todesmarsch 1945 gestorben. Seine Tochter, Petra Rosenberg, haben wir im Seminar kennengelernt. Diese Geschichte hat mich sehr bewegt.

Und ich habe im Kurs auch meine eigene Geschichte erzählt, wie ich Krieg und Flucht überlebt habe.

Als ich ein Kind war, sind wir geflohen. Das war 1991 während des Aufstands der Kurden. Dieser Krieg heißt auf Kurdisch auch „Raperîn“, zu Deutsch „Revolution“. Viele haben gegen Saddam Hussein protestiert und gekämpft. Auch viele Zivilisten haben sich der kurdischen Partei angeschlossen. Jeder hat gekämpft. Und viele hatten Angst vor Saddam Hussein, dass er uns mit Giftgas angreift. Deswegen sind viele in den Iran geflüchtet.

Auch wir sind geflohen. Wir sind sieben Tage zu Fuß gelaufen über die Grenze in den Iran. Ich habe so viel Schlimmes gesehen. Wir wussten nicht was uns erwartet. Werden wir es schaffen? Werden wir sterben? Können wir später wieder nach Hause zurückkehren?

Es war kalt, viele hatten keine Schuhe, kein Essen. Ich habe viele Menschen gesehen, die Schmerzen hatten, Angst hatten, geweint haben. Ich erinnere mich noch an meine Cousine. Sie hat geweint, weil sie nicht mehr weitergehen konnte, sie hatte keine Kraft mehr, hatte keine Schuhe. Und mein Onkel hatte auch keine Kraft mehr, er konnte sie nicht tragen. Meine kleine Schwester, sie war erst drei Monate alt. Und meine Mutter hatte keine Milch mehr. Auch ich war ein Kind, in der fünften Klasse war ich. Auch ich konnte nicht richtig laufen. Aber ich hatte Angst und bin weitergegangen. Viele haben es nicht geschafft, viele kleine Kinder und ältere Menschen sind gestorben. Ich weiß nicht, wie viele es waren.

Als Kind kann man nicht verstehen, was da passiert. Ich kann vieles nicht erzählen, weil die Erinnerung einfach zu schmerzhaft ist.

Als wir im Iran angekommen sind, haben die Soldaten aus dem Iran und auch die Menschen vor Ort uns Essen gegeben.

Es gab viele Zelte für uns Flüchtlinge. Einen Monat sind wir dort im Lager geblieben. Jeden Tag haben die Soldaten den Familien Essen gegeben. Es waren so viele Menschen.

Nach einem Monat sind wir wieder nach Hause zurückgekehrt. Unser Haus war völlig zerstört. Unsere Kleider, unsere Möbel, unsere Essensvorräte – alles war weg. Wir mussten von Null wieder anfangen. Wir haben auch alle Fotos verloren.

Bis heute habe ich nur wenige Fotos aus meiner Kindheit. Wir haben alles verloren.

Ich habe zwei Fluchten überlebt. Das zweite Mal bin ich nach Deutschland geflüchtet. Und hier hat für mich ein neues Leben angefangen. Weil dort hatten wir immer Angst vor dem Krieg, aber hier leben wir, Gott sei Dank, in Sicherheit. Hier habe ich gelernt, was Menschenrechte, Freiheit und Sicherheit bedeuten. Ich bin sehr dankbar für das Leben, das ich jetzt habe.

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