Stadtteilmütter erzählen
Seit 2006 arbeiten wir in Berlin mit Stadtteilmüttern aus Neukölln und Kreuzberg in Seminarprogrammen zur nationalsozialistischen Geschichte. Die Stadtteilmütter sind Frauen mit Einwanderungsgeschichte, die Familien in Erziehungs- und Bildungsfragen begleiten. Inzwischen haben wir mit etwa dreihundertfünfzig Frauen mehrwöchige Seminarreihen durchgeführt. Hier finden sie ausgewählte Veröffentlichungen, die aus dieser Zusammenarbeit entstanden sind.
Vorurteile und Rassismus (Nurten N. )
Heute möchte ich über Rassismus sprechen. Was genau Rassismus ist, habe ich selbst erlebt. Deswegen habe ich dieses Thema ausgewählt
Im Geschichtskurs haben wir viele Informationen über die Geschichte in Deutschland bekommen, viele Menschen kennengelernt und viele Orte besucht. Diese Orte waren für mich sehr wichtig, aber auch sehr traurig, wenn ich zum Beispiel daran denke, wie schmerzhaft es für die Sinti und Roma war.
Ich bin froh, dass es heute keine Konzentrationslager mehr gibt.
Aber der Rassismus von damals ist leider auch heute noch aktuell. Rassismus zeigt sich heute in verschiedenen Formen: auf der Straße, am Arbeitsplatz, in der Schule, bei den Behörden und in den Medien.
Eigentlich besagt das Gesetz, niemand soll wegen seines Geschlechtes, seiner Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden. Doch trotzdem gibt es Rassismus.
Doch viele Menschen wollen das nicht sehen. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, aber jede ist anders, jede lebt anders. Wir alle haben verschiedene Geschichten und Perspektiven.
Ich danke allen, dass wir in diesem Projekt gemeinsam gearbeitet haben. Durch euch konnte ich mich und meine Gedanken aus einer anderen Sicht sehen. Ich bin selbstbewusster und realistischer geworden.
Ich bedanke mich, dass ihr in meiner Nähe wart.
Der erste Schritt ist die Verallgemeinerung: Wir ordnen andere Menschen gerne Gruppen, wie zum Beispiel einer Nation, zu. Aber eine Nation sagt doch nie und nimmer wirklich etwas über einen Menschen aus. Der zweite Schritt ist die Abwertung: Hat jemand eine andere Kultur, andere Traditionen oder eine andere Religion, führt das bei vielen Menschen zu einer Ablehnung: „Dieser Mensch ist anders, also muss er schlecht sein.“
Aber können wir einen Menschen etwa aufgrund seiner Nationalität beurteilen? Nein, denn man kann nur beurteilen, was man kennt und man kann nie alle Menschen einer Nation kennenlernen.
Wir alle haben Vorurteile. Die Vorurteile haben wir von unseren Eltern übernommen, oder uns im Laufe unseres Lebens – vielleicht aufgrund bestimmter Erfahrungen – angeeignet. Darüber müssen wir uns Gedanken machen.
Über Flucht (Avan Kamal)
Im Seminar von ASF haben wir uns viel mit Krieg und den Folgen von Krieg beschäftigt. Ich habe sehr viele traurige Geschichten gehört. Besonders schockiert haben mich die Erzählungen von den Todesmärschen.
Die Nazis haben die Menschen am Ende des Krieges gezwungen auf Todesmärsche zu gehen. Sie mussten weiterlaufen, bis sie gestorben sind. Sie hatten keinen Ausweg. Sie mussten gehen, bis sie sterben.
Auch einer der Brüder von Otto Rosenberg ist auf einem solchen Todesmarsch 1945 gestorben. Seine Tochter, Petra Rosenberg, haben wir im Seminar kennengelernt. Diese Geschichte hat mich sehr bewegt.
Und ich habe im Kurs auch meine eigene Geschichte erzählt, wie ich Krieg und Flucht überlebt habe.
Als ich ein Kind war, sind wir geflohen. Das war 1991 während des Aufstands der Kurden. Dieser Krieg heißt auf Kurdisch auch „Raperîn“, zu Deutsch „Revolution“. Viele haben gegen Saddam Hussein protestiert und gekämpft.
Auch viele Zivilisten haben sich der kurdischen Partei angeschlossen. Jeder hat gekämpft. Und viele hatten Angst vor Saddam Hussein, dass er uns mit Giftgas angreift. Deswegen sind viele in den Iran geflüchtet.
Als wir im Iran angekommen sind, haben die Soldaten aus dem Iran und auch die Menschen vor Ort uns Essen gegeben.
Es gab viele Zelte für uns Flüchtlinge. Einen Monat sind wir dort im Lager geblieben. Jeden Tag haben die Soldaten den Familien Essen gegeben. Es waren so viele Menschen.
Nach einem Monat sind wir wieder nach Hause zurückgekehrt. Unser Haus war völlig zerstört. Unsere Kleider, unsere Möbel, unsere Essensvorräte – alles war weg. Wir mussten von Null wieder anfangen. Wir haben auch alle Fotos verloren.
Bis heute habe ich nur wenige Fotos aus meiner Kindheit. Wir haben alles verloren.
Ich habe zwei Fluchten überlebt. Das zweite Mal bin ich nach Deutschland geflüchtet. Und hier hat für mich ein neues Leben angefangen. Weil dort hatten wir immer Angst vor dem Krieg, aber hier leben wir, Gott sei Dank, in Sicherheit. Hier habe ich gelernt, was Menschenrechte, Freiheit und Sicherheit bedeuten. Ich bin sehr dankbar für das Leben, das ich jetzt habe.
Auch wir sind geflohen. Wir sind sieben Tage zu Fuß gelaufen über die Grenze in den Iran. Ich habe so viel Schlimmes gesehen. Wir wussten nicht was uns erwartet. Werden wir es schaffen? Werden wir sterben? Können wir später wieder nach Hause zurückkehren?
Es war kalt, viele hatten keine Schuhe, kein Essen. Ich habe viele Menschen gesehen, die Schmerzen hatten, Angst hatten, geweint haben. Ich erinnere mich noch an meine Cousine. Sie hat geweint, weil sie nicht mehr weitergehen konnte, sie hatte keine Kraft mehr, hatte keine Schuhe. Und mein Onkel hatte auch keine Kraft mehr, er konnte sie nicht tragen.
Meine kleine Schwester, sie war erst drei Monate alt. Und meine Mutter hatte keine Milch mehr. Auch ich war ein Kind, in der fünften Klasse war ich. Auch ich konnte nicht richtig laufen. Aber ich hatte Angst und bin weitergegangen.
Viele haben es nicht geschafft, viele kleine Kinder und ältere Menschen sind gestorben. Ich weiß nicht, wie viele es waren. Als Kind kann man nicht verstehen, was da passiert. Ich kann vieles nicht erzählen, weil die Erinnerung einfach zu schmerzhaft ist.
Margot Friedlander und die Geschichte meiner Familie (Beata Werner)
Das Seminar hat mich emotional sehr bewegt. Ich bin dankbar, dass ich Frau Friedlander persönlich getroffen habe und ihre Geschichte kennen lernen konnte.
Sie musste damals ihre Identität wechseln und sich verstecken, um zu überleben. Sie musste jeden Tag neu ums Überleben kämpfen. Sie wusste nicht, ob es für sie ein Morgen gibt. Heutzutage sind wir bei jeder Kleinigkeit depressiv. Doch sind es ganz kleine Probleme im Gegensatz zu dem Leid der Menschen damals.
Frau Friedlander hat mich so beeindruckt. Ich finde es großartig, dass sie weiterhin Lesungen gibt, um die jungen Menschen zu sensibilisieren, dass so etwas nie wieder passiert. Ich werde versuchen, so wie Frau Friedlander, diese Botschaft auch weiterzugeben, an die Familien, die ich besuche, an meine Bekannten und Freunde – damit so etwas nie wieder passiert.
Es schmerzt mich, dass Auschwitz in Polen, meinem Geburtsland, liegt. In den letzten Monaten gab es viel Streit in den Medien über die polnische Geschichte. Kaum einer spricht darüber wie die Polen im zweiten Weltkrieg unter der deutschen Besatzung gelitten haben – auch meine Familie!
Dieses Foto zeigt meine Großeltern nach dem Krieg, im Jahr 1947. Meine Oma musste im Krieg Zwangsarbeit leisten. Die Deutschen zwangen sie Schützengräben zu graben in der Nähe ihres Dorfes Przysieka bei Posen. Ihr Vater wurde als Zwangsarbeiter nach Schleswig-Holstein verschleppt. Er war auf einem Bauernhof in der Nähe von Lübeck.
Die Familie meines Opas litt auch sehr unter den deutschen Soldaten. Auf diesem Foto sieht man meinen Opa und seine Familie im Jahr 1941. Mein Opa war 19 als der Krieg begann. Als ich klein war, erzählte er mir, wie die Soldaten kamen und das Haus durchsuchten, ihn geschlagen haben und die Familie mit Waffen bedrohten.
Trotz dieser schweren Geschichte bin ich froh, in Deutschland zu leben. Ich bin nicht nachtragend. Ich fühle mich hier wie in meinem eigenen Land. Und ich wünsche mir, dass wir alle in Frieden miteinander leben. Der Krieg ist Vergangenheit. So soll es bleiben.