Stadtteilmütter erzählen

Die Zeitzeugin Margot Friedländer mit den Teilnehmerinnen eines Bildungsseminars. Bild: ASF

Seit 2006 arbeiten wir in Berlin mit Stadtteilmüttern aus Neukölln und Kreuzberg in Seminarprogrammen zur nationalsozialistischen Geschichte. Die Stadtteilmütter sind Frauen mit Einwanderungsgeschichte, die Familien in Erziehungs- und Bildungsfragen begleiten. Inzwischen haben wir mit etwa dreihundertfünfzig Frauen mehrwöchige Seminarreihen durchgeführt. Hier finden sie ausgewählte Veröffentlichungen, die aus dieser Zusammenarbeit entstanden sind.

Ein Koffer voller Fragen (M. O.)

Ich bin M. O., geboren 1979 in Marrakesch, Marokko. Ich bin eine muslimische Frau. Ich bin mit vier Schwestern groß geworden. 2007 kam ich nach Deutschland. Das war für mich das erste Mal im Leben, dass ich soweit von meiner Heimat entfernt war: Allein in einem Land, indem ich die Sprache nicht verstand.

Am Anfang war es sehr schwer. Ohne die Hilfe meines Mannes konnte ich noch nicht einmal alleine nach draußen auf die Straße gehen. Ich bin immer eine selbstständige Frau gewesen. Auf einmal war alles anders. Ich hatte keine Ahnung, wie diese Erfahrung mich verändern würde. Ich hätte niemals gedacht, dass ich Depressionen bekomme.

Ich bin von einem großen Haus in eine kleine Anderthalb-Zimmer-Wohnung gezogen. Es gab feste Ruhezeiten, die wir einhalten mussten. Zum Beispiel durfte ich nur zwischen 8 und 18 Uhr die Dusche oder die Waschmaschine nutzen. So etwas kannte ich vorher gar nicht. Und vor allem – und das war das Schlimmste – durfte ich auch keinen Besuch mehr empfangen.

Es war alles so anders in Deutschland. Ich musste es akzeptieren. Die Regeln und Gesetze in Deutschland sind andere. Ich habe versucht mich damit zurechtzufinden. Das war ok. Aber andere Erfahrungen konnte ich nicht so leicht akzeptieren.

Ich habe an dem Seminar von ASF teilgenommen, weil ich gehofft habe, Antworten auf meine Fragen zu finden. Doch auch jetzt, nach dem Seminar, bleibt immer noch dieses „Warum?“

Ich habe im Seminar verschiedene Orte der Verbrechen der Nazis besucht, Orte an denen Zwangsarbeiterlager und Tötungsstätten waren. Ich werde diese Orte nie vergessen und auch nicht, wie ich mich dort gefühlt habe.

Besonders bewegt hat mich unser Besuch in der Euthanasie-Gedenkstätte in Brandenburg. Wir wurden von Guides durch die Gedenkstätte begleitet, die selbst ein Handicap haben. Sie haben uns erzählt, was hier passiert ist. Frauen wurden sterilisiert, Experimente an Kindern durchgeführt, Tausende wurden ermordet. Es war schrecklich

In der Ausstellung zeigten sie uns einen Brief von Adolf Hitler vom 1. September 1939. Ein Stück Papier, das das Leben von so vielen Menschen zerstört und verändert hat. In dem „Euthanasie-Befehl“ Hitlers heißt es – Zitat: „Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“

Hat jemand sich dagegen gestellt? Im Gegenteil: Viele waren bereit mitzutun. Bedeutet dies, dass es kein Befehl war, sondern dass die Ärzte und Pfleger freiwillig mitgemacht haben?
So viele Juden, Sinti, Roma, kranke Menschen, Familien, Kinder, Menschen aus den verschiedensten Ländern sind ermordet worden – an Vernichtungsstätten wie dieser und in Konzentrationslagern.

Man hat die Menschen gezwungen alles stehen und liegen zu lassen, sie gesammelt und dann wie Tiere in Viehwaggons in die Lager deportiert. Sie wurden wie Sklaven gehalten, mussten Zwangsarbeit leisten, wurden Opfer von medizinischen Experimenten und bekamen Essen, das zum Verzehr nicht geeignet war.

Oh mein Gott! Wo ist nur die Menschlichkeit? Was ist das für eine Schuld, die die Menschen auf sich geladen haben?Was ist das für ein unbeschreibliches Gefühl, an so einem Ort ans Sterben zu denken, an die Schreie und das Weinen der Kinder. Und ich denke auch an meine Kinder. Ich kann und will mir nicht vorstellen, dass meine Kinder ohne mich aufwachsen müssten.

Ich denke an all die kranken Menschen, die jungen und alten Menschen, Frauen und Männer, die hier getötet wurden. Sie wussten, was sie erwartet. Mit dem Bus wurden sie abgeholt. Nach der Ankunft sollten sie sich entkleiden und der Arzt entschied, wer lebt und wer stirbt. Gleich nebenan wurden sie in der ehemaligen Anstaltsscheune in der Gaskammer ermordet und dann verbrannt. An denjenigen, die nicht sofort getötet wurden, machten sie medizinische Experimente. Ich stand dort an dem Ort, wo die Anstaltsscheune früher gestanden hat. Der Platz war ganz schwarz. Mir lief es kalt den Rücken herunter und ich konnte es kaum aushalten.

Nachdem der Krieg dann zu Ende war, ging das Leben der Ärzte und Pfleger, die hier gemordet hatten, einfach so weiter. Eine Strafe haben die meisten nie bekommen. Ihre Verbrechen wurden einfach ignoriert. Das ist einfach ungerecht. Und wie soll so ein neues Land, eine Demokratie entstehen?

Ich danke meinem Gott dafür, dass wir heute besser leben können in der heutigen Zeit.

Danke lieber Gott.

 

Immer wenn ich einkaufen gehen wollte, hatte ich das Gefühl, als würde mich jemand beobachten. Es war ein merkwürdiges, ganz seltsames Gefühl für mich. Vielleicht war es meine Hautfarbe oder allgemein mein Aussehen, dass die Blicke auf mich zog? Oder war es doch die Sprache? Ich kann es nicht sagen. Aber ich erinnere mich an dieses schwere Gefühl aus dieser Zeit.

Deutschland, das ist heute eine Demokratie, aber da waren auch die Menschenhasser. Die haben zu mir gesagt: „Geh zurück dahin, wo du herkommst!“

Viele Fragen gingen mir durch den Kopf: Warum sind die Menschen hier so? Was denken sie? Was hat es mit den Nazis und Hitler-Deutschland auf sich? Wieso haben sie einen Unterschied gemacht zwischen den Menschen? Sind wir nicht alle gleich? Warum gibt es dann bis heute noch soviel Hass in der Gesellschaft? Wie kann man diese Demokratie verstehen?

Viele Fragen habe ich wie in einem Koffer mit mir herumgetragen.

Ihre Ansprechpartnerinnen:

Anne Scholz

Projektkoordinatorin

Mehr Informationen zum Thema

Mail: scholz[at]asf-ev.de
Tel: +49 30 28395-165
Fax: +49 30 28395-135

Sara Spring

Projektkoordinatorin

Mehr Informationen zum Thema

Mail: spring[at]asf-ev.de
Tel: +49 30 28395-156
Fax: +49 30 28395-135

Vorurteile und Rassismus (Nurten N. )

Heute möchte ich über Rassismus sprechen. Was genau Rassismus ist, habe ich selbst erlebt. Deswegen habe ich dieses Thema ausgewählt

Im Geschichtskurs haben wir viele Informationen über die Geschichte in Deutschland bekommen, viele Menschen kennengelernt und viele Orte besucht. Diese Orte waren für mich sehr wichtig, aber auch sehr traurig, wenn ich zum Beispiel daran denke, wie schmerzhaft es für die Sinti und Roma war.

Ich bin froh, dass es heute keine Konzentrationslager mehr gibt.

Aber der Rassismus von damals ist leider auch heute noch aktuell. Rassismus zeigt sich heute in verschiedenen Formen: auf der Straße, am Arbeitsplatz, in der Schule, bei den Behörden und in den Medien.

Eigentlich besagt das Gesetz, niemand soll wegen seines Geschlechtes, seiner Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden. Doch trotzdem gibt es Rassismus.

Doch viele Menschen wollen das nicht sehen. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, aber jede ist anders, jede lebt anders. Wir alle haben verschiedene Geschichten und Perspektiven.

Ich danke allen, dass wir in diesem Projekt gemeinsam gearbeitet haben. Durch euch konnte ich mich und meine Gedanken aus einer anderen Sicht sehen. Ich bin selbstbewusster und realistischer geworden.

Ich bedanke mich, dass ihr in meiner Nähe wart.

Der erste Schritt ist die Verallgemeinerung: Wir ordnen andere Menschen gerne Gruppen, wie zum Beispiel einer Nation, zu. Aber eine Nation sagt doch nie und nimmer wirklich etwas über einen Menschen aus. Der zweite Schritt ist die Abwertung: Hat jemand eine andere Kultur, andere Traditionen oder eine andere Religion, führt das bei vielen Menschen zu einer Ablehnung: „Dieser Mensch ist anders, also muss er schlecht sein.“

Aber können wir einen Menschen etwa aufgrund seiner Nationalität beurteilen? Nein, denn man kann nur beurteilen, was man kennt und man kann nie alle Menschen einer Nation kennenlernen.

Wir alle haben Vorurteile. Die Vorurteile haben wir von unseren Eltern übernommen, oder uns im Laufe unseres Lebens – vielleicht aufgrund bestimmter Erfahrungen – angeeignet. Darüber müssen wir uns Gedanken machen.

Über Flucht (Avan Kamal)

Im Seminar von ASF haben wir uns viel mit Krieg und den Folgen von Krieg beschäftigt. Ich habe sehr viele traurige Geschichten gehört. Besonders schockiert haben mich die Erzählungen von den Todesmärschen.

Die Nazis haben die Menschen am Ende des Krieges gezwungen auf Todesmärsche zu gehen. Sie mussten weiterlaufen, bis sie gestorben sind. Sie hatten keinen Ausweg. Sie mussten gehen, bis sie sterben.

Auch einer der Brüder von Otto Rosenberg ist auf einem solchen Todesmarsch 1945 gestorben. Seine Tochter, Petra Rosenberg, haben wir im Seminar kennengelernt. Diese Geschichte hat mich sehr bewegt.

Und ich habe im Kurs auch meine eigene Geschichte erzählt, wie ich Krieg und Flucht überlebt habe.

Als ich ein Kind war, sind wir geflohen. Das war 1991 während des Aufstands der Kurden. Dieser Krieg heißt auf Kurdisch auch „Raperîn“, zu Deutsch „Revolution“. Viele haben gegen Saddam Hussein protestiert und gekämpft.

Auch viele Zivilisten haben sich der kurdischen Partei angeschlossen. Jeder hat gekämpft. Und viele hatten Angst vor Saddam Hussein, dass er uns mit Giftgas angreift. Deswegen sind viele in den Iran geflüchtet.

Als wir im Iran angekommen sind, haben die Soldaten aus dem Iran und auch die Menschen vor Ort uns Essen gegeben.

Es gab viele Zelte für uns Flüchtlinge. Einen Monat sind wir dort im Lager geblieben. Jeden Tag haben die Soldaten den Familien Essen gegeben. Es waren so viele Menschen.

Nach einem Monat sind wir wieder nach Hause zurückgekehrt. Unser Haus war völlig zerstört. Unsere Kleider, unsere Möbel, unsere Essensvorräte – alles war weg. Wir mussten von Null wieder anfangen. Wir haben auch alle Fotos verloren.

Bis heute habe ich nur wenige Fotos aus meiner Kindheit. Wir haben alles verloren.

Ich habe zwei Fluchten überlebt. Das zweite Mal bin ich nach Deutschland geflüchtet. Und hier hat für mich ein neues Leben angefangen. Weil dort hatten wir immer Angst vor dem Krieg, aber hier leben wir, Gott sei Dank, in Sicherheit. Hier habe ich gelernt, was Menschenrechte, Freiheit und Sicherheit bedeuten. Ich bin sehr dankbar für das Leben, das ich jetzt habe.

Auch wir sind geflohen. Wir sind sieben Tage zu Fuß gelaufen über die Grenze in den Iran. Ich habe so viel Schlimmes gesehen. Wir wussten nicht was uns erwartet. Werden wir es schaffen? Werden wir sterben? Können wir später wieder nach Hause zurückkehren?

Es war kalt, viele hatten keine Schuhe, kein Essen. Ich habe viele Menschen gesehen, die Schmerzen hatten, Angst hatten, geweint haben. Ich erinnere mich noch an meine Cousine. Sie hat geweint, weil sie nicht mehr weitergehen konnte, sie hatte keine Kraft mehr, hatte keine Schuhe. Und mein Onkel hatte auch keine Kraft mehr, er konnte sie nicht tragen.

Meine kleine Schwester, sie war erst drei Monate alt. Und meine Mutter hatte keine Milch mehr. Auch ich war ein Kind, in der fünften Klasse war ich. Auch ich konnte nicht richtig laufen. Aber ich hatte Angst und bin weitergegangen.

Viele haben es nicht geschafft, viele kleine Kinder und ältere Menschen sind gestorben. Ich weiß nicht, wie viele es waren. Als Kind kann man nicht verstehen, was da passiert. Ich kann vieles nicht erzählen, weil die Erinnerung einfach zu schmerzhaft ist.

Margot Friedlander und die Geschichte meiner Familie (Beata Werner)

Das Seminar hat mich emotional sehr bewegt. Ich bin dankbar, dass ich Frau Friedlander persönlich getroffen habe und ihre Geschichte kennen lernen konnte.

Sie musste damals ihre Identität wechseln und sich verstecken, um zu überleben. Sie musste jeden Tag neu ums Überleben kämpfen. Sie wusste nicht, ob es für sie ein Morgen gibt. Heutzutage sind wir bei jeder Kleinigkeit depressiv. Doch sind es ganz kleine Probleme im Gegensatz zu dem Leid der Menschen damals.

Frau Friedlander hat mich so beeindruckt. Ich finde es großartig, dass sie weiterhin Lesungen gibt, um die jungen Menschen zu sensibilisieren, dass so etwas nie wieder passiert. Ich werde versuchen, so wie Frau Friedlander, diese Botschaft auch weiterzugeben, an die Familien, die ich besuche, an meine Bekannten und Freunde – damit so etwas nie wieder passiert.

Es schmerzt mich, dass Auschwitz in Polen, meinem Geburtsland, liegt. In den letzten Monaten gab es viel Streit in den Medien über die polnische Geschichte. Kaum einer spricht darüber wie die Polen im zweiten Weltkrieg unter der deutschen Besatzung gelitten haben – auch meine Familie!

Dieses Foto zeigt meine Großeltern nach dem Krieg, im Jahr 1947. Meine Oma musste im Krieg Zwangsarbeit leisten. Die Deutschen zwangen sie Schützengräben zu graben in der Nähe ihres Dorfes Przysieka bei Posen. Ihr Vater wurde als Zwangsarbeiter nach Schleswig-Holstein verschleppt. Er war auf einem Bauernhof in der Nähe von Lübeck.

Die Familie meines Opas litt auch sehr unter den deutschen Soldaten. Auf diesem Foto sieht man meinen Opa und seine Familie im Jahr 1941. Mein Opa war 19 als der Krieg begann. Als ich klein war, erzählte er mir, wie die Soldaten kamen und das Haus durchsuchten, ihn geschlagen haben und die Familie mit Waffen bedrohten.

Trotz dieser schweren Geschichte bin ich froh, in Deutschland zu leben. Ich bin nicht nachtragend. Ich fühle mich hier wie in meinem eigenen Land. Und ich wünsche mir, dass wir alle in Frieden miteinander leben. Der Krieg ist Vergangenheit. So soll es bleiben.

AFS-Blog

Netzwerk Israel: Gerade jetzt die Zivilgesellschaft unterstützen

zum Blogbeitrag

Gedenken an queere NS-Verfolgte im Bundestag – mit vielen Weggefährten von ASF

zum Blogbeitrag

Statt Vorschlägen über die Köpfe der Leidtragenden hinweg – jetzt ist unsere Unterstützung gefragt

zum Blogbeitrag

Mut, Verzweiflung und Zusammenhalt in Odesa

zum Blogbeitrag

Wie Antisemitismus entgegentreten?

zum Blogbeitrag

60 Jahre ASF in Belgien

zum Blogbeitrag

Viele Gespräche und Begegnungen in Nürnberg

zum Blogbeitrag
WordPress Double Opt-in by Forge12